Ein Nachmittag im „vergessenen Stadtteil“

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Das bekannteste an Staten Island ist seine Fähre. Vom Battery Park aus, am südlichen Ende von Manhattan, kann man kostenlos zum anderen Stadtteil reisen. Das Schiff passiert dabei die Freiheitsstatue, weshalb auch viele Touristen die 20-minütige Überfahrt auf sich nehmen. Danach steigen sie in die nächste Fähre und reisen zurück. Die wenigsten bleiben auf Staten Island. Hier gäbe es doch nichts zu sehen.

Genau diese Aussage bekam ich immer wieder zu hören, als ich verschiedenen Leuten davon erzählte, mir Staten Island anschauen zu wollen. „Da gibt’s doch nichts. Was willst du dort?“ Die Insel wird auch der „forgotten borough“ genannt, ein Rückzugsort für wohlhabende Bürger und gleichzeitig eine kulturelle Wüste. Zwar hat Bürgermeister Bill de Blasio versprochen, diese Fehlentwicklung zu beenden, bisher sind den Worten aber keine Taten gefolgt. Dabei lohnt sich ein Ausflug zu dem Ort, der F. Scott Fitzgerald dazu inspirierte, „The Great Gatsby“ zu schreiben.

Der nördliche Teil der Insel, an dem die Fähre hält, lässt davon noch wenig erahnen. St. George sieht nicht so aus wie das beschriebene Reichenviertel. Es ist die am dichtesten besiedelte Gemeinde auf der Insel, mit vielen Ausländern. Hier steht das Staten Island Yankee Stadium, in dem seit 1999 ein Ablegerteam der Yankees aus der Bronx spielt. Ein wenig weiter die Waterfront entlang gelangt man zum 9/11 Memorial mit dem Namen „Postcards“. Zwei weiße Skulpturen, die Postkarten darstellen sollen, beinhalten die Namen aller Menschen aus Staten Island, die im World Trade Center umgekommen waren. Wenn man von der Straßenseite aus auf das Mahnmal blickt, kann man zwischen den beiden Statuen die Skyline Manhattans mit dem neuen One World Trade Center sehen.

St. George ist auch der Sitz des Staten Island Museums. Bei diesem Namen hatte ich eigentlich erwartet, eine Geschichte der Insel zu erhalten. In Wahrheit beinhaltet das Gebäude aber viele Fotos von der Fähre und eine Mineral- sowie Insektensammlung. Wobei wir wieder beim Thema kulturelles Brachland wären. Wenn man aber genau hinschaut, findet man hier ganz interessante Objekte: eine Platte mit Dinosaurier-Fußabdrücken etwa. Und eine wirklich gute Einführung in das Leben der Magicicadas. Diese Zikadenart sorgt für ein Naturschauspiel, das in New York nur auf Staten Island zu erleben ist. Alle 17 Jahre kriechen die Tiere aus dem Boden, häuten sich und schwärmen durch die Luft, auf der Suche nach paarungswilligen Artgenossen. Dabei machen die Männchen sehr eindringliche Singlaute, die auch für Menschenohren zu hören sind. Das geht einige Wochen so, danach sind die Insekten verschwunden. Die neu geschlüpften Larven haben sich im Boden verkrochen, wo sie wieder 17 Jahre warten, um hervorzukommen. Das letzte Mal wurden sie 2013 gesichtet.

An anderen Jahren ist die Luft mit Schmetterlingen erfüllt. Sobald man St. George in die nobleren Viertel verlässt, mehren sich nämlich prächtige Bauten und Gärten. Der botanische Garten in New Brighton ist ein gutes Beispiel dafür. Er steht auf dem Gelände des Snug Harbors, einem ehemaligen Altenheims für Seemänner. Heute zeugen nur noch einige kleine Landhäuser an diese Zeit, sonst bietet der Snug Harbor eine große Anzahl an Grünanlagen.

Und wenn man die wirklich Reichen beim Leben beobachten will? Dann muss man den Bus nehmen. Auf Staten Island gibt es keine Metro. Wohl auch deshalb fahren die übrigen New Yorker so selten heraus. Nach ungefähr einer Stunde ist man bis zum Zentrum der Insel vorgedrungen. Hier, auf dem Lighthouse Hill, steht eine Villa neben der anderen. Darunter auch das einzige Wohnhaus von Frank Lloyd Wright in New York, dem Erbauer des Guggenheim Museums. Da die Gegend abgeschieden ist, bin ich mit meiner großen Kamera leicht aufgefallen. Gleich am Anfang wurde ich von einem älteren Herren angehalten. Was ich denn hier suchen würde, fragte er. Als ich ihm erzählte, dass ich den nahegelegenen Leuchtturm sehen wollte, bekam er große Augen. „Ich lebe seit über 60 Jahren neben diesem Turm und habe ihn zu lieben gelernt“, sagte er, bevor er mich in ein langes Gespräch über Drehlinsen und Blinkarten verwickelte. Er beendete seinen Monolog mit dem Hinweis, dass Staten Island ein neues Museum erbauen möchte, das sich mit Leuchttürmen befassen soll.

Ob dieses Museum dazu beitragen wird, dass Staten Island nicht mehr als „forgotten borough“ gilt, wage ich zu bezweifeln.

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